Ingeborg Bachmann liest Gedichte.
Eine Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, 10. Mai 1965
»Böhmen liegt am Meer«
»Ihre Worte«
»Freies Geleit«; »Exil«; »Geh, Gedanke«
Anfang des Jahres 1964 unternahm Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) zwei Reisen nach Prag. Begleitet wurde sie vom jungen Schriftsteller und Filmemacher Adolf Opel (1935 – 2018), der sie in Berlin aufgesucht hatte, nachdem er von Wolfgang Kraus, dem damaligen Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Bachmanns Adresse erhalten hatte. Berlin war nach der 1963 endgültig erfolgten Trennung von Max Frisch zu Bachmanns Rückzugsort geworden; hier sollte sie bis 1965, dem Jahr, in dem sie nach Rom übersiedelte, leben.
Am 5. Jänner 1964, gleich beim allerersten Zusammentreffen, lud Adolf Opel Ingeborg Bachmann ein, ihn nach Prag zu begleiten. Sie stimmte sofort zu, und bereits am 16. Jänner machten sich die beiden im Zug von Berlin aus auf den Weg in die Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, wo sie eine Woche lang blieben. Eine zweite gemeinsame Pragreise erfolgte kurze Zeit später, vom 27. Februar bis zum 4. März 1964.
Im Zuge dieser Pragaufenthalte dürfte Bachmann das Hotel nur selten verlassen haben, und wenn, dann nur für kurze Spaziergänge. Immerhin konnte sie Blumen auf Franz Kafkas Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof legen – der nach Opel einzige Ausflug, der weiter weg vom Hotel führte. Der Grund für diese seltenen Ausflüge lag einerseits am eisigen Prager Winter, andererseits – und vor allem – an Bachmanns krankheitshalber geschwächtem Zustand.
Was den Pragreisen ihre zentrale Bedeutung für Bachmanns Werk – und wohl für die österreichische Nachkriegsliteratur insgesamt – verleiht, ist ein Gedichtzyklus, an dem sie während der Aufenthalte im Hotel schrieb. Für Bachmann war das Schreiben von Lyrik außergewöhnlich geworden, hatte sie doch seit der Mitte der 1950er Jahre kaum mehr Gedichte verfasst. Umso bemerkenswerter ist es, dass nun unter sehr ungewöhnlichen und schwierigen Rahmenbedingungen das Gedicht entstand, von dem sie später sagen würde, es sei dasjenige, zu dem sie »immer stehen werde«: »Böhmen liegt am Meer«.
Dieses Gedicht, das vom Pragaufenthalt ebenso geprägt wurde wie von Bachmanns Shakespeare-Lektüren – schon der Titel bezieht sich auf Shakespeare’s »The Winter’s Tale«, stellte sie etwas mehr als ein Jahr nach der zweiten Pragreise der Öffentlichkeit vor: Im Rahmen einer ihrer seltenen Lesungen las sie es auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zum allerersten Mal vor Publikum.
Leider ist von dieser Veranstaltung am 10. Mai 1965 keine Gesamtaufnahme verfügbar, sondern nur einzelne kurze Ausschnitte. In diesen bekommt man allerdings neben »Böhmen liegt am Meer« vier weitere bedeutende Gedichte zu hören.
Ingeborg Bachmann war oft als Gast der Literaturgesellschaft in Wien. Als sie in Rom lebte, war unsere Gästewohnung im achten Wiener Gemeindebezirk der Ort, an dem sie während ihrer Wien-Aufenthalte die meiste Zeit verbrachte. Im Zuge von Veranstaltungen der Literaturgesellschaft trat sie hingegen nur zweimal auf: 1965 und 1971, zwei Jahre vor ihrem Tod.
(weiterführende Literatur: Hans Höller / Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von »Böhmen liegt am Meer«, Piper, 2016)