Freitagabend durften wir im Rahmen der BUCH WIEN 2024 und der Reihe ›Der Gläserne Vorhang‹ Sofia Andruchowytsch und Cornelius Hell in der Literaturgesellschaft begrüßen. Vorgestellt wurde Andruchowytschs ›Amadoka-Epos‹-Trilogie (Residenz Verlag). Das Wort »Amadoka« bezieht sich auf einen See, der auf antiken und mittelalterlichen Landkarten im Gebiet der Ukraine verzeichnet ist, von dem man aber nicht weiß, ob er tatsächlich existiert hat. Der Amadoka-See fungiert als Metapher für das Vergessen bzw. die Manipulation und Veränderung von Erinnerungen, die zentrales Thema der drei Romane sind.
Der erste Teil der Trilogie, »Die Geschichte von Romana« (2023), erzählt von einer ukrainischen Archivarin, die in einem ohne Erinnerung aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten ihren Mann Bohdan zu erkennen glaubt. Sie versucht, sein Gedächtnis durch Gespräche mit ihm zurückzuholen. Ob der Soldat wirklich Romanas Mann ist, erfahren die Leser*innen nicht.
Die Geschichte ist an die Erzählung eines mit der Autorin befreundeten Psychiaters angelehnt, der ebenfalls mit einem Patienten arbeitete, der im Krieg sein Gedächtnis verloren hatte. Im Gespräch mit Cornelius Hell sprach Andruchowytsch, gedolmetscht von Maria Weissenböck, diesbezüglich unter anderem über das Verhältnis von persönlichem und historischem bzw. kollektivem Gedächtnis.
In der gesamten Trilogie verbinden sich persönliche Geschichten mit der Geschichte der gesamten Ukraine. Insbesondere werden drei Punkte aufgefasst: Der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Zweite Weltkrieg bzw. die Shoah, und die Hungersnot und Ermordung der ukrainischen Kunst- und Kulturszene in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
Im zweiten Band »Die Geschichte von Uljana« (2023) sind Fotografien zentral: Romana versucht, Bohdans Gedächtnis mittels Fotos und Erzählungen seiner eigenen Familiengeschichte zurückzuholen. Im Zentrum steht Bohdans Großmutter Uljana, die sich als junges Mädchen in einen jüdischen Jungen verliebte. Diese Geschichte spielt in Butschatsch, einer Kleinstadt in der Westukraine, die viele Jahrhunderte lang Zentrum jüdischer Kultur war, die aber verschwiegen, vergessen und teils gezielt ausgelöscht wurde.
Im dritten und letzten Band »Die Geschichte von Sofia« (2024) geht es um den Dichter Mykola Zerow, dessen Frau Sofia und den Autor und Doppelagenten Wiktor Petrow, mit dem Sofia eine heimliche Beziehung führt.
Das Verhältnis von Vergessen und Erinnern, individueller und kollektiver Geschichte sowie die ukrainische Geschichte und Kultur waren wichtige Gesprächspunkte. Maria Weissenböck las aus allen drei Teilen der Trilogie.
Moderation: Cornelius Hell
Dolmetsch und Lesung: Maria Weissenböck
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 22.11.2024
Die Veranstaltung fand im Rahmen der BUCH WIEN 2024 statt.