
Am 5. September ist Reinhard Urbach gestorben. Mit dem Theaterwissenschaftler und Literaturvermittler verliert die ÖGfL einen ihrer ältesten Wegbegleiter, der die Geschichte der Wiener Literaturszene maßgeblich prägte.
»Ich hab‘ mich damals schon im Mittelpunkt der literarischen Welt gefühlt, was die deutschsprachige Literatur angeht«
erklärte Reinhard Urbach rückblickend in einem 2016 geführten Interview über seine Zeit als Mitarbeiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Im Jahr 1968, als die 1961 gegründete Literaturgesellschaft nicht mehr in den Kinderschuhen steckte, sondern schon ein etabliertes Zentrum für die Förderung österreichischer und internationaler Literatur in Wien darstellte, wurde der 1939 in Weimar/DDR geborene Literatur- und Theaterwissenschaftler Reinhard Urbach Mitarbeiter der Institution, und rasch zu einem ihrer wichtigsten Köpfe.
Nach der Schulausbildung war Reinhard Urbach auf eigene Faust in den Westen ausgewandert und hatte in Bonn und Köln Geschichte und Germanistik studiert. Sein Professor Richard Alewyn vermittelte ihn als Doktoranden über Arthur Schnitzler an dessen Sohn Heinrich Schnitzler weiter – und damit nach Wien. Heinrich Schnitzler gewährte ihm bereitwillig Zugang zum Archiv seines Vaters, und 1968 veröffentlichte Urbach die erste Schnitzler-Monographie in deutscher Sprache seit 1922.
»Es kam nur die Österreichische Gesellschaft für Literatur in Frage«
Neben seinen Schnitzler-Forschungen war für Urbach eines klar:
»Das Ziel war: Der Tagesablauf musste etwas mit Literatur zu tun haben. Es kam nur die Österreichische Gesellschaft für Literatur in Frage; die Veranstaltungen besuchte ich regelmäßig. Es dauerte einige Zeit, bis ich als möglicher Mitarbeiter bemerkt wurde.«
Dank dem ÖGfL-Mitarbeiter Herbert Zand wurde Urbach 1967 zu einem Vortrag eingeladen und sprach in der Reihe Forum der Jugend zum Thema: Wie frivol ist Arthur Schnitzler? Urbach ging es bei der Wahl des Titels darum, »die vorherrschende Meinung von der Schlüpfrigkeit und den Vorwurf der Pornographie zu widerlegen.« 1968 konnte er dann Zands Nachfolge antreten. In seinem Erinnerungstext Ent-Fremdung – Die Jahre von 1968 bis 1974 in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zitiert er Herbert Zand:
»Meinen Platz in der Gesellschaft sollen Sie nicht ›tradierend‹ einnehmen, sondern einen eigenen daraus machen.«
Als Wissenschaftler war Urbach in der Literaturgesellschaft vor allem für die Kontakte zu anderen Forscher*innen aus den Bereichen Theaterwissenschaft und Germanistik (vor allem der Auslandsgermanistik) zuständig. Hier ist in erster Linie sein Engagement für Exilliteratur, insbesondere für den Exilautor und -germanisten Egon Schwarz hervorzuheben. Neben der Pflege der Kontakte zu österreichischen und internationalen Autor*innen, Übersetzer*innen, Kritiker*innen etc. zählten die monatliche Programmplanung sowie Moderationen und Vorträge zu Urbachs Aufgabenbereichen.
Seinen Arbeitsplatz im Palais Wilczek verließ Urbach schon bald wieder – wenngleich nur für kurze Zeit. Im Herbst vertrat er den Germanisten David Bronsen als Professor an der Washington University in St.Louis/Missouri, wo er den Schriftsteller und Germanisten Egon Schwarz kennenlernte, der 1938 auf der Flucht vor dem NS-Regime seine Heimatstadt Wien hatte verlassen müssen. Schwarz war bis zu diesem Zeitpunkt nie nach Österreich zurück gereist. Zwei Woche nach Urbachs Rückkehr aus den USA folgte jedoch eine freundliche offizielle Einladung durch die ÖGfL nach Wien. Urbach musste seinem Schreiben noch ein-, zweimal Nachdruck verleihen, ehe Egon Schwarz am 13. Mai 1971 schlussendlich in der ÖGfL über Das verschluckte Schluchzen. Rainer Maria Rilke und seine Zeitsprach. Dieser Vortrag kann als Beginn seiner akademischen Rückkehr nach Wien gewertet werden. Eine Widmung eines Essaybandes aus dem Jahr 2000 legt die Relevanz von Urbachs Engagement offen: »Ich widme dieses Buch dem Andenken von Karl Ludwig Schneider, der mich als Erster nach Deutschland geholt, und Reinhard Urbach, der mich mit meiner Heimatstadt Wien versöhnt hat.«
1971 unternahm Urbach erneut eine längere Reise. In diesem Jahr, das auf dem Sektor der Außenkulturpolitik als Jahr der Literatur ausgerufen worden war, wurden in Kooperation mit der ÖGfL mehrere Lesereisen von Autor*innen organisiert, deren besonders Charakteristikum darin lag, dass sie jeweils von einem Autor/einer Autorin und einem Literaturwissenschaftler/einer Literaturwissenschaftlerin bzw. einem Literaturkritiker/einer Literaturkritikerin gemeinsam bestritten wurden. Während Thomas Bernhard mit Hans Rochelt in Italien unterwegs war und Peter Handke mit Alfred Kolleritsch durch die USA reiste, begab sich Reinhard Urbach mit Barbara Frischmuth im November 1971 nach Frankreich und Großbritannien. In einem Brief an Siegfried Unseld betonte Urbach die Vorteile des spezifischen Formats, das Diskussionen befördere:
»Die Veranstaltungen sahen so aus, daß ich etwa eine halbe Stunde über die neueste österreichische Literatur gesprochen habe und dann Frau Frischmuth aus ihren Büchern gelesen hat.«
Wie sehr Urbach die Literaturgesellschaft, die versuchte, möglichst viele Akteur*innen des Literaturbetriebs zusammenzubringen, am Herzen lag, geht aus einer in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichten Notiz über die achte (68/69) und neunte Programmsaison (69/70) hervor, in der es heißt:
Keine andere Institution bietet eine solch breite und repräsentative Information. Rundfunk und Fernsehen sind keine Konkurrenz; die Veranstaltungen der Gesellschaft haben dem Rundfunk die Anschaulichkeit und dem Fernsehen die Ausführlichkeit voraus. Nur, leider – der Rahmen des Barockpalais, in dem die Abende hauptsächlich stattfinden, erweist sich immer häufiger als zu klein. Als Elias Canetti hier sein Drama Hochzeit las, kamen etwa achthundert Besucher in einen Saal des Konzerthauses, das ist für eine anspruchsvolle Lesung eine beachtliche Zahl. […] Die Gesellschaft für Literatur steht nicht nur jedem offen, sie will auch ihr Programm offenhalten, für neue Richtungen ebenso wie für alte Herrschaften. Sie hat keine Doktrin, sie übt keinen Meinungsterror aus. Ihre Veranstaltungen sollen ein Spiegel der zeitgenössischen, vor allem der österreichischen Literatur sein.
1973, nach dem Weggang von Otto Breicha, wurde Urbach zum Stellvertreter von Wolfgang Kraus, dem Leiter der ÖGfL. Doch bereits zwei Jahre später verließ er diesen Posten und wurde Leiter des Literaturreferates der Stadt Wien und damit zu einer einflussreichen Persönlichkeit der Kulturpolitik. Bereits im selben Jahr war es ihm möglich, das Literarische Quartier – Alte Schmiede in der Schönlaterngasse zu gründen; die in den Folgejahren größte Konkurrentin der Literaturgesellschaft, die noch dazu in unmittelbarer Nähe gelegen war.
»Mein bester einstiger Mitarbeiter«
Urbach und Wolfgang Kraus blieben in Kontakt, in der engverwobenen Wiener Literaturszene war dies kaum anders möglich. Als sie sich 1977 zum gemeinsamen Mittagessen trafen, notierte Kraus später:
»Er [Urbach] macht nun auch das ›Europa-Gespräch‹. Mein bester einstiger Mitarbeiter – mein stärkster und erfolgreichster Konkurrent. Ich liefere die Teilnehmer-Namen, als wär’s in der Literaturgesellschaft.«
Auch 1979 hielt er in einer Notiz voller Wehmut seine Erinnerungen an Urbach fest, diesmal blickte er auf vom Café Landtmann hinüber zum Burgtheater, wo dieser mittlerweile als Dramaturg beschäftigt war:
»Das Burgtheater ist frisch gewaschen und schimmert weiß wie die Akropolis, nur nicht ganz so edel. Ich schaue von meinem Tisch im Landtmann in Urbachs Büro, das über dem halbrunden Fenster des Seitenflügels liegt.«
Dass Reinhard Urbach jedoch auch nach seinem Weggang regelmäßig im ÖGfL-Programm auftrat, kann als Zeichen des guten Einverständnisses gewertet werden; so war er etwa bei folgenden Veranstaltungen zu Gast: Elias Canettis dramatisches Werk (1979), Das Wien Arthur Schnitzlers (1981) sowie Was bleibt von Kafka? (1983). Auch zu den sogenannten »literarischen Jausen« wurde Urbach regelmäßig eingeladen Kurz vor der Gründung des Literarischen Quartiers, im Jänner 1974, war in den Räumlichkeiten der ÖGfL zudem die Gründung des Arthur Schnitzler-Instituts erfolgt; Wolfgang Kraus wurde dessen Leiter, Urbach sein Stellvertreter.
Urbach war relativ kurz Leiter des neuen Literaturvereins in Wien. 1977 holte ihn Achim Benning ans Burgtheater, wo er bis zum Beginn der Ära Peymann 1986 als Chefdramaturg tätig war. 1988 wurde er zum Direktor des Theaters der Jugend, das er bis 2002 leitete.
Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Literaturgesellschaft im Jahr 2022 war Reinhard Urbach mehrmals zu Gast in der Literaturgesellschaft, etwa gemeinsam mit Hans Haider, Raoul Blahacek, Kurt Neumann und Franz Schuh. Die Gespräche sind auf YouTube nachzusehen: Die Literaturgesellschaft – zentrale Mitarbeiter*innen (ab 26:25) und Die Literaturgesellschaft und der Literaturbetrieb (ab 23:20)
Zudem stand er im Rahmen der umfangreichen Arbeiten zur Geschichte der Literaturgesellschaft stets mit Rat und Tat zur Seite. Wir bedanken uns für die kontinuierliche freundliche Unterstützung und Ermutigung.
Reinhard Urbach wurde mit der Wiener Ehrenmedaille in Gold und dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet.
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Mai 1975 ©Raoul Blahacek -
März 2022 ©ÖGfL -
Mai 2022 ©ÖGfL -
Ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen der Literaturgesellschaft ©ÖGfL
Quellen
Kraus, Wolfgang: Tagebucheintrag,7. Februar 1977, NLWK, ÖLA.
Kraus, Wolfgang: Tagebucheintrag, 31. August 1979, NL WK, ÖLA.
Schwarz, Egon: „Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker“. Essays über österreichische, deutsche und jüdische Literatur. Hg. von Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000, S. 7-11, S. 6.
Urbach, Reinhard: Ent-Fremdung – Die Jahre von 1968 bi 1974 in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. In: ÖGfL [Hg.]: In guter literarischer Gesellschaft. Wien: Edition Atelier 2024. (S. 29-48)
Briefe, Interviews:
Reinhard Urbach an Siegfried Unseld, Brief vom 14. Dezember 1971, ÖGfL-Archiv.
Interview mit Reinhard Urbach, geführt von Ursula Ebel und Holger Englerth, Juni 2016.