Am 16. November feiert der Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und ehemalige ÖGfL-Mitarbeiter Helmuth A. Niederle seinen 75. Geburtstag. Mit der Literaturgesellschaft ist er schon lange verbunden. Geboren und aufgewachsen in Wien, ging der selbsternannte »hemmungslose Leser« (Niederle, S.53) schon als Schüler hier ein und aus, denn sein Deutschlehrer Viktor Böhm hatte ihm das hier stattfindende ›Forum der Jugend‹, das er selbst gemeinsam mit Kurt Benesch betreute, empfohlen – ein Veranstaltungsformat für das junge Publikum, bei dem neben Vorträgen und Diskussionen auch Gespräche mit Gegenwartsautor*innen stattfanden und dem »ein einzigartiges Flair eigen« war.
(…) dieses Clubatmosphäre zu nennen, wäre wahrscheinlich übertrieben. Der geräumige Salon, in dem mehrere Sitzreihen aufgestellt waren, ließ eine Nähe zu, die eine Wurzel in der Gruppe der Besucher hatte: Man kannte einander und wurde nicht müde zu diskutieren und einander zu widersprechen. Manchmal standen wir – die/der Autor:in bzw. der/die Vortragende war längst schon gegangen – im Nebenraum und tauschten Argumente aus. Kurt Benesch drängte uns nie zum Weggehen.
(Niederle, S.56)
Bald begann Niederle, nicht nur das ›Forum der Jugend‹, sondern auch die Abendveranstaltungen zu besuchen. Dass er ab 1974 neben seinem Studium der Ethnologie, Volkskunde, Kunstgeschichte und Soziologie selbst in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zu arbeiten begann, ergab sich aus den dabei geknüpften Kontakten:
Stundenweise half ein Jusstudent aus, der auf den Spitznamen Dagobert hörte. Vom Laufburschen bis zum Sesselträger war sein Aufgabenbereich. Mit ihm freundete ich mich an. […] Kurz bevor er das Doktorat gemacht hatte und Verkehrsjurist beim ÖAMTC geworden war, empfahl er mich als seinen Nachfolger. Kurt Benesch kannte mich schon als Dauergast. Dagoberts Fürsprache war erfolgreich und ich begann in der Organisation zu arbeiten, was lange mein Wunsch gewesen war.
(Niederle, S. 57)
Wie Niederle sich in seinem Beitrag für die Jubiläumsanthologie der ÖGfL erinnert, bestand eine seiner Aufgaben der frühen Jahre im Verschicken von Buchpaketen auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Diese wurden, etwa in die DDR, eingeschrieben gesandt; »neben der Anschrift des Adressaten hatte eine Nummer zu stehen, die Zensoren oder Zöllnern bedeutete, das Päckchen ist durchzulassen.« (Niederle, S. 55)
Neben seiner Tätigkeit für die ÖGfL schrieb Niederle für mehrere Zeitungen, etwa den ›Kurier‹, die ›Furche‹ oder den ›Standard‹. Darüber hinaus debütierte er 1974 mit dem Prosaband »Verwandlungen« (Bergland), für den er den Förderpreis der Theodor-Körner-Stiftung erhielt. Es folgte eine Vielzahl unterschiedlichster Werke, die von Lyrik und Prosa bis hin zum wissenschaftlichen Schreiben reichen und, wie Christian Teissl bemerkt hat, häufig »zwischen Legende und Forschungsbericht hin und her« (Teissl, S. 9) pendeln.
»Ob nun Reportage oder Capriccio, ob leichtfüßig Satire oder dunkel surreales Notturno, ob Schauspielerbiographie oder kulturtheoretische Studie – aus allen seinen Arbeiten spricht seine große Neugier und Empathie, seine Freude an der Fremde (die man keineswegs mit »Exotik« verwechseln darf!), seine Anteilnahme an den Lebens- und Denkwegen anderer und nicht zuletzt sein gleichermaßen wissenschaftliches wie spielerisches Temperament.«
(Teissl, S. 7)
Mit dem Wechsel der Leitung von Wolfgang Kraus zu Marianne Gruber im Jahr 1994 wurde Niederle stellvertretender Leiter der Literaturgesellschaft und war ab diesem Zeitpunkt für die Programmgestaltung verantwortlich. Nun bot sich ihm die Möglichkeit, gemeinsam mit Marianne Gruber das Profil der ÖGfL zu erweitern und Autor*innen zu Lesungen zu bitten, die zuvor »aus verschiedenen Gründen nie in die Literaturgesellschaft eingeladen worden wären.« (Niederle: Einige Erinnerungen, S. 62) Dank seines Interesses für Kulturen und Literaturen außerhalb Europas setzte Niederle sich maßgeblich für eine globale Öffnung des Programms der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ein. Bis 2011, wo er die ÖGfL verließ, um Leiter des P.E.N.-Clubs zu werden, waren etwa Li Ang (Taiwan), Assia Djebar (Algerien), Milton Hatoum (Libanon/Brasilien), Miguel Mejides (Kuba), Galsan Tschinag (Mongolei), Archie Weller (Australien) u.v.w. zu Gast.
Der neue internationale Schwerpunkt brachte auch neue Kooperationspartner. In gemeinsamen Veranstaltungen mit etwa dem Prison Writers Kommitee des PEN, für den Niederle sich engagierte, stand die politische Unterdrückung von Schriftsteller*innen sowie die weltweite Wahrung der Menschenrechte im Fokus. Diesem Anliegen folgt auch etwa die von ihm herausgegebene Anthologie »Von der Freiheit des Schreibens. Anthologie verfolgter Autorinnen und Autoren« (Löcker, 2011).
In Kooperation mit der Universität Wien und weiteren Partnerinstitutionen gelang es Niederle um die Jahrtausendwende, in der Literaturgesellschaft eine Reihe großer teils mehrsprachiger und interdisziplinärer Symposien an der Schnittstelle von Ethnologie und Literaturwissenschaft zu veranstalten: »Wir und die anderen. Islam, Literatur und Migration« (1998) mit einer Eröffnungslesung von Barbara Frischmuth und Vorträgen von u.a. Assia Djebar und Serafettin Yildiz, »Wir sind die Wunder, um die bittere Frucht der Zeit zu kosten. Afrika, Diaspora, Literatur und Migration« (1999) mit Teilnehmenden aus über 15 Ländern und einem Eröffnungsvortrag von Jean Ziegler, »Europa – Lateinamerika: Literatur, Migration und Identität« (2000) mit Gästen aus u.a. Chile und Mexiko, »Literatur und Migration: Indien. Migranten aus Südasien und der westliche Kontext« (2001) mit Vorträgen, einer Fotoausstellung und einer Lesung von Sudhir Kakar sowie »Literatur und Migration: Südafrika« (2002) mit Vortragenden aus u.a. Südafrika und den Niederlanden.
Von 2011 bis 2024 war Niederle Präsident des Österreichischen PEN-Clubs. Darüber hinaus fungiert er als Herausgeber unzähliger Werke und mehrerer Reihen, etwa der ›edition pen‹ im Löcker Verlag und der Reihe ›lenguas de tierra‹ im Korrektur Verlag. 2017 wurde er mit dem ›Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien‹ sowie dem ›Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse‹ ausgezeichnet; im Jahr darauf erhielt er die ›Memorial Medal for his excellent lifelong literary work‹ und 2019 den ›International Literary Prize Azem Shkreli‹.
Auch nach seinem Ausscheiden aus der Literaturgesellschaft war Niederle immer wieder im Programm der ÖGfL vertreten, etwa im Rahmen der von ihm kuratierten und moderierten Reihe ›Weltliteraturen – Literaturen der Welt‹, in der etwa Ilia Galán, Aftab Husain, Karl Lubomirski, Anton Marku oder Margarita Valdivia auftraten und in der er 2019 auch eigene Gedichte aus dem Band »Bauplatz der Vergeblichkeit« (Löcker, 2018) vortrug.
Wir freuen uns, dass Helmuth A. Niederle im Februar 2025 in der Literaturgesellschaft aus seinen beiden neuesten Publikationen »Was nun? Liber turpis. Über Götter, Menschen und Mischwesen« (Korrektur Verlag, 2023) und »Das Lopen=Buch« (Löcker Verlag, 2024) lesen wird und wünschen alles Gute!
Quellen:
Niederle, Helmuth A.: Einige Erinnerungen. In: Österreichische Gesellschaft für Literatur (Hrsg.): In guter literarischer Gesellschaft. Wien: Edition Atelier 2024. S. 52-62.
Teissl, Christian: Können Steine atmen? Marginalien zu Helmuth A. Niederle. In: Niederle, Helmuth A.: Podium Porträt 47. Hg. von Hannes Vyoral. Wien: Podium 2009. S. 6-14.