Am gestrigen Abend wurden in der Literaturgesellschaft im Rahmen der Reihe ›EUROPA.LITERATUR‹ zwei Neuerscheinungen präsentiert. Beide Romane beginnen mit dem Tod der Mutter des Ich-Erzählers bzw. der Ich-Erzählerin. Dieser stößt jeweils eine Suche an, nach der Identität der Mutter oder nach dem eigenen Selbst.
Die Boznerin Christine Vescoli gab Einblick in ihren Debütroman: »Mutternichts« (Otto Müller). Der Titel des Buches beschreibt das Vermächtnis einer Mutter an ihre Tochter. Durch ihr Schweigen lässt die Mutter die Ich-Erzählerin und Tochter mit einer schmerzhaften Abwesenheit von Erinnerung zurück, ihr Tod gibt Anlass und zugleich Möglichkeit, die Vergangenheit zu entziffern und ungeklärte Fragen zu ergründen. Es entsteht ein individuelles Portät zweier Frauen und zugleich eine kollektive Geschichte Südtirols, die sich dem Leben als Magd (im Südtiroler Dialekt und im Roman: ›Dirn‹) zur Mitte des 20. Jahrhunderts widmet. Die Tragweite des Romans, so Vescoli im Gespräch, sei ihr erst durch die Resonanz nach der Veröffentlichung bewusst geworden. Auch Fragen der Autofiktionalität und der Historie der Autorin, die in der theoretischen Beschäftigung mit Literatur liegt, wurden im Gespräch mit Ursula Ebel beantwortet.
Danach las Stephan Roiss aus seinem zweiten Roman: »Lauter« (Jung und Jung). Seinen Debütroman »Triceratops« (Kremayr & Scheriau) hatte er 2020 bereits bei uns vorgestellt. Auf den Tod der Mutter folgt zunächst der Rückzug des Protagonisten Leon; im Titel ist die darauffolgende Entwicklung bereits angedeutet. In zahlreichen raffinierten Beschreibungen begleiten die Lesenden den Musiker Leon quer durch Italien auf einer Selbstfindungssuche, die zwischen lauten und leisen Passagen fluktuiert und sich im Aufbau an musikalischen Kompositionen orientiert. Die Lautheit des Buches betonte Stephan Roiss mit einer Lesung, die auch die hinteren Reihen wach hielt. Ein kurzes Gespräch mit dem Autor zu u.a. dörflichen Idyllen und zur Schwierigkeit der literarischen Darstellung Venedigs beendete den Abend.
Moderation: Ursula Ebel
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 3. April 2024