Heute vor 100 Jahren wurde in Lemberg der polnische Schriftsteller Stanisław Lem geboren. Vermutlich, denn bis heute gelang es Literaturhistoriker*innen nicht, einen eindeutigen Beweis dafür zu finden, ob Lem am 12. oder am 13. September zur Welt kam.
Wien-Aufenthalt
Auf Einladung von Wolfgang Kraus, dem Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, übersiedelte Lem 1983 zusammen mit seiner Familie nach Wien. Von Anfang an sprach man über einen längeren Aufenthalt, wie man der offiziellen Einladung entnehmen kann. Nach Polen wollte er aus politischen Gründen sowie aus Sorge um die Zukunft des Sohnes Tomasz zunächst nicht zurückkehren.
Gewohnt hat Lem zuerst im 4. Bezirk, dann im 13. in der Geneegasse. Während seines fünfjährigen Aufenthalts in Wien arbeitete er u.a. an dem Roman Fiasko, welcher im Auftrag des S. Fischer entstand und 1986 erschien. Obwohl Lem sich in sieben Sprachen ausdrücken konnte, darunter auch Deutsch, verfasste er seine Hauptwerke auf Polnisch. Auch der erwähnte Roman Fiasko wurde auf Polnisch geschrieben und dann von Hubert Schumann ins Deutsche übersetzt.
Maestro Lem
In Wien Hietzing traf Lem auf einen anderen aus Polen stammenden Schriftsteller – Radek Knapp –, welcher in seinem Roman Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Notizen eines Möchtegern-Österreichers (Amalthea, 2020) die erste Begegnung mit Mastreo Lem auf folgende Weise beschreibt:
Wenn man lange genug in Wien war, stieß man nicht nur auf polnische Putzfrauen und Bauarbeiter, sondern auch auf berühmte Landsleute, die seinerzeit vor dem Kommunismus geflüchtet waren. […] Ich hätte aber nie gedacht, dass ich einmal am eigenen Leib das sogenannte »Cary-Grant-Gesetzt« erleben würde. Dieses Gesetz besagte, dass jeder Normalsterbliche einmal im Leben einen Prominenten trifft. […]
Ich war in jenem Herbst als Heizungsableser unterwegs und bearbeitete an besagtem Tag eine Villengegend in Hietzing. Ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen, weil Villengegenden unter den Heizungsablesern besonders unbeliebt sind. […]
Zum Glück blieb mir an diesem Zag nur noch eine Villa am Ende der Straße und danach war Feierabend. Als ich an der Tür läutete, öffnete mir ein kleiner korpulenter Mann um die sechzig. Er war eindeutig kein Österreicher und sprach ein sonderbares Deutsch, so als würde er sich selbst parodieren. […]
Nachdem ich mit der letzten Heizung fertig war, ließ ich ihn die Rechnung unterschreiben. Als ich seine Unterschrift sah, musste ich zwei Mal hinsehen. Auf der Heizungsrechnung stand der Name Stanisław Lem. Das schlug bei mir ein wie ein Blitz. Stanisław Lem war Polens berühmtester Sci-Fi-Schriftsteller, und wenn man es genau nahm, sogar Europas. […] Er war so bekannt, dass sogar ein deutscher Polizist in Berlin Lem erlaubte, gegen die Einbahn zu fahren, nur weil er einmal die Robotermärchen gelesen hatte. Das alles schoss mir jetzt durch den Kopf, als ich die Rechnung mit der Unterschrift des Meisters in der Hand hielt, und ich hörte mich plötzlich auf Polnisch sagen: »Kann es sein, dass wir Landsleute sind?«
Radek Knapp: Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Notizen eines Möchtegern-Österreichers, S. 137 f.
Möbel von IKEA
Welche Möbel hatte Lem in Wien? Auf jeden Fall einige von der schwedischen Kette IKEA, was die Aufbauanleitungen, welche im Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Literatur neben zahlreichen Korrenspondenzen und Abrechnungen in einem eigenen „Lem-Ordner“ aufbewahrt werden, belegen. Entdeckt wurden sie im Rahmen des Projektes Die Internationalisierung Wiens im Feld der Literatur am Beispiel der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 1960-1989/90, welches gerade, gefördert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, an der Universität Wien durchgeführt wird.
Werk
Lems Werke wurden in fast 60 Sprachen übersetzt, was ihn auf den ersten Platz in der Geschichte der polnischen Literatur platziert. Bekannt ist der Schriftsteller für seine Romane im Science-Fiction-Genre – eine Zuschreibung, die er selbst allerdings ablehnte. Zu den bekanntesten Texten gehören neben Fiasko (1886) Solaris (1961) und die Sterntagebücher (1957), welche eine Inspiration für Olga Flors Blogroman Ich in Gelb waren. Flor hatte sie mit großer Leidenschaft während ihres Physikstudiums gelesen, weshalb sie an sie dachte, als sie an ihrem 2015 erschienen Roman schrieb.
In Österreich erhielt Lem zwei Preise – 1986 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 1991 den Österreichischen Franz-Kafka-Preis, was ansonsten nur noch einem einzigen weiteren polnischen Autor – Sławomir Mrożek – gelang.