Eine kleine Geschichte der Literaturvermittlung: Die »Österreichische Gesellschaft für Literatur« stand am Beginn öffentlicher Literaturprogramme und feiert nun 60-jähriges Bestehen. Warum Institutionen wie sie so wichtig sind.

Als Moderatorin einer Lesung in der »Österreichischen Gesellschaft für Literatur« fragte ich kürzlich eine Autorin an, ob sie mit einem die Lesung begleitenden Gespräch, wie es mittlerweile Usus ist, einverstanden sei. Sie reagierte skeptisch, auf der Bühne wisperte die Schriftstellerin nach einigen Fragen: »Ist es nun genug?«. Nachdem wir uns einvernehmlich zugenickt hatten, verließ sie flugs die Bühne.
Öffentlich über eigene Texte zu sprechen, schien ihr verhängnisvoll, die Literatur, das Gehörte, sollte für sich stehen. Geschehnisse wie dieses sind selten. Denn viele Autor/innen nehmen die Bühne primär als Ort des Gesprächs, des offenen Einblicks in ihre Werkstätten und Gedankengänge wahr. Fragen in puncto persönlicher Erfahrungen und literarischer Herangehensweisen werden bereitwillig beantwortet. Als sperrig wahrgenommene Texte sollen auf diese Weise zugänglicher sein. Die Palette an Literaturveranstaltungsformaten ist breit, wächst kontinuierlich und reicht von traditionellen Lesungen, die neben dem präsentierten Text nur Platz für ein Wasserglas und einige Besucher/innen lassen, bis hin zu Buchpartys, wo bei Drinks und Sounds Buchpremieren gefeiert werden.
Dabei ist bemerkenswert, dass das Format allein wenig über den Andrang und das Interesse der Besucher/innen aussagt, bei einem Programm zur aktuellen akademischen Forschung können ebenso viele Besucher/innen antanzen wie bei einem gut gesponserten Literaturfestival. Doch seit wann floriert Wiens literarische Szene?
Wien bietet ein dichtes Literaturprogramm. Lesungen finden an Universitätsinstituten, in Kaffeehäusern, Buchhandlungen – sowohl in den großen Ketten als auch in den kleinen liebevoll geführten –, in Theatern oder im Rahmen von Kulturfestivals, Sommerprogrammen oder touristischen Marketingmaßnahmen statt; kaum ein Ort ohne Lesung. Leicht verliert der/die Interessierte den Überblick. Die Gefahr, den Hut drauf zu hauen, besteht durchaus. Die Popularität des Veranstaltungsorts spielt eine maßgebliche Rolle für den Erfolg einer Veranstaltung.
Literatur, die traditionell mit ihrer geringen Marktfähigkeit kämpfte, war, im Gegensatz zu heute, lange nicht auf Bühnen präsent. In der unmittelbaren Nachkriegszeit und den ersten Jahren der Zweiten Republik wurden mit den großen Musik- und Theaterbetrieben des Landes zwar die Flaggschiffe der österreichischen Kultur möglichst zügig reaktiviert, die Literatur führte vorerst ein Schattendasein.
Eine Grande Dame der Szene
1962 startete die »Österreichischen Gesellschaft für Literatur«, die dem geschriebenen Wort eine gewisse Wahrnehmung in der breiteren österreichischen Öffentlichkeit erkämpfen wollte, ihre erste Saison. Kontinuierlich wurden Einladungen an Autor/innen, Übersetzer/innen und Kritiker/innen im In- und Ausland ausgesprochen, Stipendien vergeben, Medienpräsenz und Literaturpreise auf den Weg gebracht. Am wichtigsten war jedoch die Bühne. Ilse Aichinger, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek absolvierten hier frühe Auftritte. W.H. Auden diskutierte mit u. a. Peter Härtling und Claude Simon, Exilautor/innen wie Elias Canetti, Jakov Lind und Frederic Morton erhielten erstmals nach ihrer Flucht vor dem NS-Regime Einladungen zu Auftritten in der Öffentlichkeit, regimekritische Autor/innen der kommunistisch regierten Staaten, etwa Joseph Brodsky oder Václav Havel, konnten im »Westen« sprechen. Hier hatte die von der öffentlichen Hand geförderte Literaturvermittlung ihren Ursprung.
Literatur wird präsentiert, die sich nicht zwangsläufig an guten Verkaufszahlen orientieren, sondern literarischer Ästhetik den Vorzug geben kann. Marktkonformes Denken beeinflusst nur bedingt die Planungen, somit entsteht ein Raum für Ungewohntes und Nischen. Die Literaturgesellschaft wurde ein Art Vorbild für die Installation aller anderen österreichischen literaturvermittelnden Einrichtungen, die sich im Netzwerk »mitSprache« zusammengeschlossen haben.
Ein Blick in die Herbstprogramme dieser Institutionen macht rasch deutlich, dass die Häuser weiterhin als Spielwiese genauso für jüngere, unbekanntere Autor/innen, vergessene Stimmen wie für renommierte Autor/innen dienen. Darin liegt der besondere Wert dieser literaturvermittelnden Einrichtungen, die Hürde mag größer sein, sich in ungewohnte Refugien der Literatur zu wagen, als nebenbei einer Lesung in einem Kaffeehaus zu lauschen, doch Literatur ist hier kein Nebenprodukt, sondern die zentrale Akteurin. Die Häuser der Literatur setzen auf den realen Ort der literarischen Begegnung und das reale Publikum. Dessen Relevanz schlägt sich wiederum in Neuerscheinungen nieder.
Neuerscheinungen zu Literaturvermittlung und Rezeption
Seit 2015 findet in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur die Gesprächsreihe WERK.GÄNGE der Bachmannpreis-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant statt, 18 Gespräche erschienen nun in Buchform. In »Übers Schreiben sprechen. 18 Positionen der österreichischen Gegenwartsliteratur« erhalten etwa Sabine Gruber, Julya Rabinowich, Thomas Stangl und Anna Weidenholzer ausführlich die Möglichkeit, auf die präzisen Fragen zur Machart ihrer literarischen Texte zu antworten. Der Brückenschlag zwischen mehreren Werken erlaubt nicht nur die Ausleuchtung neuer Verknüpfungen und Motive, sondern erzählt wie nebenbei eine kleine österreichische Literaturgeschichte.
In der von Anton Thuswaldner herausgegebenen Anthologie »Der Gegenkanon« setzen sich die Autor/innen und Kritiker/innen Raphaela Edelbauer, Konstanze Fliedl, Franzobel, Gabriele Kögl, Franz Schuh, Ilija Trojanow u. v. a. sowohl mit zu unrecht gehypten Werken als auch zu unrecht vergessenen Autor/innen der Weltliteratur auseinander und erlauben damit einmalige Einblicke in ihre individuellen Leseerfahrungen. Hier trifft der kleine Prinz auf den Struwwelpeter oder Robert Seethaler auf Ursula Wiegele. Dass sich die Autor/innen mit ihren Urteilen über andere Texte überraschend weit aus dem Fenster lehnen, ist eine Besonderheit des Buchs, viel wichtiger ist jedoch der mutige Versuch der Einkreisung – Erschließung wäre ob der Dimension des Vorhabens zu viel gesagt – einer literarischen Terra incognita. Denn »Der Gegenkanon«bietet neben Schmähungen auch hymnische Besprechungen, etwa von »Search Sweet Country« des ghanaischen Schriftstellers Kojo Laing oder vom »Büroroman« des deutschen Autors Walter E. Richartz.
Zugegeben, es gibt ausreichend brauchbaren Lesestoff auf diesem Gebiet, wagen Sie dennoch einen Ausflug in eine der Literaturinstitutionen – wo auch immer Sie zuhause sind. Der Herbst bietet sich dafür an.
Die gesamte Ausgabe des Sonderhefts Österreich der BUCHKULTUR ist hier zu finden.