Ein Text geschrieben von Cornelius Hell, entstanden im Zuge seines Stipendienaufenthalts in der Casa Litterarum in Paliano:
Meine ersten Schritte sind eine Landnahme: Ich muss das weitläufige Grundstück abschreiten, durch die Allee gehen und den Hügel hinauf, um hinüberzuschauen nach Paliano, die Erinnerungen kommen und die Sehnsucht wachsen lassen nach dieser Stadt – der einzigen, deren Tagesablauf ich protokolliert habe, weil ihre Rituale so sichtbar sind und sich auf der Piazza Colonna bündeln zu einem Lebensmodell. Fünf Tage noch, denn nach der Anreise muss ich hier in Quarantäne bleiben, also schreite ich das ganze Territorium ab, das Landgut des Fürsten Colonna, auf dem sich mein Haus befindet, die Casa Litterarum, die ich jetzt zum dritten Mal in Besitz nehme.
Auf der Suche nach Mistkübeln gehe ich auf die Veranda. Als ich um die Ecke gehe, schießt eine Schlange aus der Erde hoch, aus eigener Kraft ringelt sie sich empor und streckt mir ihren Kopf entgegen, mindestens 30 Zentimeter über dem Boden. Entsetzt weiche ich zurück, kann aber meine Augen nicht lassen von diesem Schauspiel, das ich noch nie gesehen habe. Fotos habe ich davon gesehen, und aus Plastilin habe ich meinen Kindern die Schlange Hiss geformt, wie sie ich emporschlängelt, aber gesehen habe ich das noch nie.
Meine Tochter Viola ist die erste, die mich danach anruft, noch immer gebannt und geschockt erzähle ich ihr von dem Erlebnis. War sie giftig?, will sie wissen, und ich antworte: Ich konnte sie ja nicht danach fragen. Wie sie denn aussah, interessiert sich die Tochter. Alles ging blitzschnell, die Zeit war zu kurz, um sie mir einzuprägen, aber an ihre Farben erinnere ich mich: hauptsächlich schwarz, mit etwas gelb und grün. Das muss eine Zornnatter gewesen sein, sagt die Tochter, die schneller googelt als ich. Das leuchtet mir gleich ein, denn im Auftritt der Schlange habe ich etwas Vertrautes gespürt: den Zorn, wenn mich jemand irritiert oder stört.
Danach google auch ich und schaue mir die Bilder an – das könnte hinkommen, auch wenn die Zornnatter recht unterschiedlich aussehen kann. Sie war also nicht giftig, doch sie beißt gerne und fest zu; sie wollte ihr Zuhause gegen mich verteidigen und mir eine Grenze zeigen, begreife ich langsam. Ich bin ja nach acht Monaten der Erste hier, der eindringt in ihr Revier.
Die Tage vergehen, doch die Zornnatter lässt mich nicht los. Kein einziges Mal umrunde ich das Haus, ich gehe nur von der einen Seite, von der Veranda aus, oder aus der Gegenrichtung, von der grünen Haustüre her, bis zu der Stelle, wo sie lautlos aus der Erde geschossen ist. Der Beton ist schmal hier, sie könnte durchaus noch einmal kommen. Aus sicherer Entfernung möchte ich sie schon sehen, also mache ich Lärm, springe auf den Beton oder werfe ein Steinchen an den Platz, wo sie sich emporgewunden hat. Doch alles umsonst, die Schlange lässt sich nicht anlocken mit so billigen Tricks, sie hat es nicht nötig, sich vorführen zu lassen, was sie zu sagen hatte, hat sie mir mitgeteilt.
Ihr Auftritt war so einprägsam wie der nächtliche Besuch, den mir am 26. Juli 2017 hier ein Käuzchen abgestattet hat. Ich saß im Lehnstuhl beim Lesen und bemerkte auf einmal, wie es mich ansah. Ich rührte mich nicht, wagte den Kopf kaum zu bewegen, drehte ihn nur ganz leicht, um das Käuzchen besser sehen zu können. Es schaute mir zu beim Lesen, doch als ich ihm in die Augen blickte, flog es davon. In vier Tagen ging mein Aufenthalt zu Ende, ich habe es nie mehr gesehen. Doch seine Botschaft ist mir geblieben: dass ich nicht alleine bin beim nächtlichen Lesen, dass jemand auf mich schaut, dass mein Lesen und Schreiben nicht nur für mich selbst ist, dass es ankommt auf mich.
Bleiben wird auch die Warnung der Natter, und sie verbindet sich mit dem Buch, das ich vor der Reise hierher gelesen habe – in Adam Zagajewskis „Poesie für Anfänger“ bin ich auf das Gedicht gestoßen, in dem Czesław Miłosz durch die Rue Descartes in Paris geht und sich an die größte Sünde seiner Jugend erinnert: dass er die Wasserschlange mit einem Stein erschlagen hat. Ich kenne seinen Geburtsort Šetainiai in Litauen, ich war an der Issa, seinem ersten Fluss, er ist mir nahe wie sein Gedicht, das mich von dem Wunsch befreit, die Natter zu töten, um das Haus ohne Angst umrunden zu können.
Ich drehe um an dem Platz, an dem sie mich gewarnt hat, ihr Revier zu missachten, und aus dem Sand an der Vorderseite des Hauses erblicke ich ein kleines Wesen in den Farben der Schlange: schwarz, gelb und grün, nur der Schwanz ist braun. Eine Eidechse hält still, das eine Auge unablässig auf mich gerichtet. Sie bewegt sich nicht, prüft nur, ob ihr Gefahr droht. Und auch ich bewege mich nicht, weil ich will, dass sie bleibt. Die Warnung der Natter hat mir die Augen geöffnet für die Angst im Blick der Eidechse, lässt mich innehalten und warten. Erst als sie sich raschelnd verkriecht, gehe ich ins Haus und beginne zu schreiben.