Im November letzten Jahres veranstalteten wir gemeinsam mit dem IWM das zweitägige Symposion »Mut zur Sprache« zum Thema ›Historische Momente im östlichen Europa 1962-2022‹.
U.a. durften wir im Zuge dessen Marjana Gaponenko begrüßen, die sich gemeinsam mit Natalka Sniadanko dem Länderschwerpunkt Ukraine widmete.
Zum Abschluss des Symposions lasen alle geladenen Autor*innen von ihnen gewählte kurze Texte. Marjana Gaponenko entschied sich für eine Nachdichtung des Gedichts »Jenseits-Kalyna« von Iwan Dratsch. Gewidmet ist es der Pflanze Kalyna, die nicht nur für die Autorin selbst, sondern auch für viele weitere Ukrainer*innen bedeutsam ist.

Jenseit-Kalyna
Iwan Dratsch
Nachdichtung von Marjana Gaponenko
Ich bin im Jenseits aufgewacht.
Jenseits des Ozeans… Also.
Chicago, vollgestopft mit Schnee
bis zum Hals oder nur bis zu den Ohren,
sein Wolkenkratzermeer – ein schwaches Blinken,
stramm standen sie, in Reih und Glied
wie Lichtpatronen in einem Patronenetui.
Man kam gleich dreimal, um mich abzuholen,
das Endziel: Madison, nicht weit von hier.
Das Flugzeug bahnte sich seinen Weg.
Wir fuhren zu einer Lesung an der Uni.
Der Taxifahrer sang aus Angst am Steuer.
Eine Frau auf dem Hintersitz betete, es lagen
umgestürzte Autos bauchaufwärts entlang der
Autobahn. Zerbrochen. Wie unsere Träume, wenn wir sie losgelassen haben.
Ein Schneesturm pfiff, wie in Norilsk.
Und wir, als trüge uns ein Kinderschlitten, glitten durch die Nacht.
Auf halber Strecke fanden wir Quartier.
In einem fremden Haus, ich schlief wie tot, um im Jenseits aufzuwachen…
jenseits des Ozeans. Also.
Vor mir, direkt vor meinem Fenster
hinter dem massiven Glas (mit Eisblumen, Sorte Illinois),
da stand er, unschuldig, ein Kalyna-Baum mit roten Beerenrispen,
angebissen vom Raubtier namens Frost.
Hüfthoch versank der Baum im Schnee
und ging, lief auf mich zu.
Vereist.
Sprang er zu mir, wie im Fieber.
Und ich,
ich schauderte –
durch den Planeten hindurch.
Mein Baum von Zuhause war zu mir gekommen,
meine Kalyna aus Telischynzi.
Den steinigen Planetenmantel hatte sie durchbrochen,
damit ich mich mit meinem Herzen an sie lehnen,
die Seele wärmen konnte
und stärken.
in diesem Wirbelsturm,
im Wirbelsturm der Welt …
Ich schauderte nicht minder, als ein Mädchen
(Und Mama ließ mich nicht zu dir: не буди)-
Ein kleines, dünnes Kalynchen
(Und Mama ließ mich nicht zu dir: не буди).
zu mir kam, ihre Hand ausstreckte
zum Kennenlernen,
weil Mama sie nicht gehen ließ.
In aller Früh mich wecken aus dem Jenseits wollte sie, die Kleine,
das Haus mit Stille zu beduften, war ihr Plan.
Sie kam dann etwas näher. Ein kleines, dünnes Bäumchen.
In ihren Augen – abgrundtiefer Glanz
Nachdem sie vor mir knixte, sprach sie
in ihrer Kalyna-Sprache leise mit Akzent
– Mein Name ist Kalyna, und wie heißt du?