In seiner Rede zum 10-jährigen Bestehen der Literaturgesellschaft im Dezember 1971 rief ihr Präsident Wolfgang Kraus den Eröffnungsabend am 18. Dezember 1961 in Erinnerung und gedachte bei dieser Gelegenheit auch dem schon verstorbenen Schriftsteller Heimito von Doderer, »der damals las und dem ich für seinen Rat und seine stetige Präsenz danken möchte.« (Wolfgang Kraus, 10 Jahre Österreichische Gesellschaft für Literatur, 14. Dezember 1971, ÖGfL-Archiv)
Doderer, der seit Erscheinen seines epochalen Werkes »Die Strudlhofstiege oder Melzer und Die Tiefe der Jahre« (1951) als einer der gewichtigsten deutschsprachigen Nachkriegsschriftsteller gefeiert wurde, hatte die Literaturgesellschaft mit dem zu diesem Zeitpunkt noch unpublizierten Roman »Die Merowinger oder Die totale Familie« (1962) eröffnet. Schon ein Jahr nach dieser – wie Kraus sie bezeichnete – »unvergesslichen Lesung« bat er Doderer erneut auf das Podium, dieses Mal aber nicht in das Palais Wilczek (wo die Eröffnung stattgefunden hatte und wo sich auch heute die Räumlichkeiten der Literaturgesellschaft befinden), sondern in das größere Palais Pálffy:
»Nachdem Sie uns die grosse Ehre erwiesen haben, der Eröffnung unserer Gesellschaft mit Ihrer Lesung Gewicht zu geben, wäre es uns nun ein besonderes Anliegen, Sie wieder zu bitten, einen Abend bei uns zu geben, und zwar diesmal im grossen Saal des Palais Palffy. Ihr neuer Roman wäre uns ein besonders willkommener Anlass für eine Lesung und wir könnten auf diese Weise die „Wasserfälle von Slunj“ unserem Publikum vorstellen.«
(Wolfgang Kraus an Heimito von Doderer, Brief vom 21. August 1963, ÖGfL-Archiv)
Die Buchpräsentation der »Wasserfälle von Slunj«, dem ersten des auf drei Teile konzipierten »Roman No. 7«, fand schließlich am 7. Oktober 1963, kurz nach Erscheinen des Buches, statt. Der zweite Teil der Trilogie, »Der Grenzwald«, konnte erst posthum veröffentlicht werden, denn Doderer, der noch fünf weitere Male bei Veranstaltungen der Literaturgesellschaft sprach und auch ansonsten häufig unter ihren Gästen war, starb am 23. Dezember 1966 überraschend an einem zu spät erkannten Darmkrebs. Noch im Sommer hatte er mit der ÖGfL-Mitarbeiterin Hella Bronold bezüglich der Möglichkeit eines längeren USA-Aufenthalts korrespondiert; geplant war eine – von der ÖGfL und dem Österreichischen Kulturinstitut in New York organisierte – Vortragsrundreise durch die wichtigsten Universitätsstädte, in Bezug auf welche »schon Verschiedenes eingeleitet worden« war. (Heimito von Doderer an Hella Bronold, Brief vom 7. August 1966)
Dass nicht nur die Literaturgesellschaft mit Doderer, »sondern auch er mit uns auf eine sehr enge Weise verbunden war« (Herbert Zand an Maria von Doderer, Brief vom 16. Juni 1967, ÖGfL-Archiv), beweist die Tatsache, dass der Autor der ÖGfL nach seinem Tod eine Spende hinterließ. Darüber hinaus schenkte die Witwe Maria von Doderer der Literaturgesellschaft ein »schönes Erinnerungsstück«, nämlich das Bild mit dem Titel »Die Wasserfälle von Slunj«, welches auch heute noch in ihren Räumlichkeiten hängt.
Schon am 20. Juni 1967 wurde die von der Literaturgesellschaft errichtete Gedenktafel für Doderer in Anwesenheit von Vertreter*innen des Bundesministeriums für Unterricht, des Kulturamts der Stadt Wien sowie des P.E.N. Clubs enthüllt. Die Gedenkworte sprach Hans Weigel, der sowohl sehr gut mit Doderer befreundet als auch eng mit der ÖGfL verbunden war. In seiner Rede regte er an, eine Straße oder einen Park im 1., 9. oder 19. Bezirk – im Bereich jener Gegenden, die in seinen Romanen beschrieben werden – nach Doderer zu benennen. Zwar intervenierte Wolfgang Kraus schon wenige Tage später diesbezüglich bei der zuständigen Stadträtin; eine »angemessene Benennungsmöglichkeit an prominenter Stelle« (Gertrude Sandner an Wolfgang Kraus, Brief vom 3. August 1967) zu finden, war jedoch schwierig.
Seit 1970 gibt es nun eine Doderergasse im 21. Wiener Gemeindebezirk. Aufgrund von neuen Erkenntnissen über seine Sympathien mit bzw. seine Mitgliedschaft bei der NSDAP hat sich das Doderer-Bild jedoch in den letzten Jahren gewandelt. Der Straßenname wird daher, wie dem kritischen Lesebuch »Umstrittene Wiener Straßennamen« (Oliver Rathkolb et al, Pichler Verlag 2014) zu entnehmen ist, als Fall mit demokratiepolitisch relevanten biographischen Lücken eingeordnet.