Gestern Abend durften wir die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky bei uns in der Literaturgesellschaft begrüßen. Sie präsentierte ihr neues Buch »Weiter Sehen« (Bibliothek Suhrkamp). Im Gespräch mit Lydia Mischkulnig wurde der Blick auf ihre Dichtung und das lyrisch-essayistische Gelände gerichtet, deren Sprache Mischkulnigs Kino bereichert.
»Das Kino als Tempel verliert seine Bedeutung für gemeinschaftliche Erfahrung. Das bewegte Bild wird in Privatheit vereinzelt konsumiert. Der Ort, an dem man ein Sehen teilte, und trotzdem geschützt in der Anonymität seines Raumes verblieb, verwaist und ist geschlossen. Was bedeutet der Rückzug der Erfahrung des Blickes ins Private?«
Lydia Mischkulnig
Die Autorin erklärte zum Titel »Weiter Sehen«: »Es soll ein Titel sein, der einen in ganz viele verschiedene Richtungen führen kann.« Solch ein Titel ist sehr passend für ein Buch, in dem die Umgebung über verschiedene Sinneseindrücke und kunstvoll eingefügte Eigenschaftswörter in einer Weise beschrieben wird, die in der Vorstellung der Leser*innen Bilder erzeugt. Denn diese Bilder basieren zwangsläufig nicht nur auf dem Gelesenen, sondern auch auf der eigenen Erinnerung, also auf Gesehenem, was sowohl unmittelbar Erlebtes als auch in Filmen Gesehenes umfasst. So meinte auch Lydia Mischkulnig nachdem Esther Kinsky einen Ausschnitt mit einem Spaziergang durch eine ungarische ehemalige Kleinstadt, die ihre besten Zeiten hinter sich hat, vorgelesen hatte, dass einem dieses Niemandsland irgendwoher bekannt sei und dass sich Bilder aus der eigenen Erinnerungen mit aktuellen Erfahrungen kombinieren. Wenn man beim Lesen dieses Buches also in die eigenen Gedanken abdriftet, wäre das nicht, weil der Text so langweilig ist oder man selbst so unkonzentriert ist, sondern dieser Exkurs wäre einfach ein »Weiter Sehen«, das die Lektüre auf individuelle Weise bereichert.
»Weiter Sehen« ist kein Roman, sondern ein Bericht. Das Buch hat fünf Teile: Vorspiel, Hauptteil, Zwischenspiel, Hauptteil und Nachspiel. Das Thema ist die ungarische Kinogeschichte. Im Kontext des Sozialismus gab es in Ungarn früher sehr viele Kinos, jeder Ort hatte eines. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftsformen war das Kino aber keine Attraktion mehr und Kinsky brachte den Grund dafür auf den Punkt: ohne Arbeit habe man auch keinen Feierabend. So geht es in dem Buch nicht nur um die Gründung eines Kinos in einer Rückblende, sondern auch um die Reparatur und Wiedereröffnung eines alten, verlassenen Kinos. Viele Referenzen auf Filme und Regisseure weisen aus dem Buch hinaus und laden dazu ein, nicht nur zu lesen, sondern sich auch mal wieder einen Film anzusehen. Und die bezaubernd schöne Beschreibung der Kinoatmosphäre, die als schützend, elegant, gemütlich und noch viel mehr bietend beschworen wird, macht auch Lust darauf ins Kino zu gehen und dort mal wieder einen Film anzusehen.
Begrüßung: Manfred Müller
Moderation: Lydia Mischkulnig
Österreichische Gesellschaft für Literatur, 18.1.2024