Die ehemalige Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur feiert heute ihren 80. Geburtstag.
Sagen wir, ich schreibe an Sie, wer immer Sie sind. Ich denke Sie aus, ich erfinde Sie eben. Ich werde Ihnen auch eine Wohnung zuweisen. Warum nicht in meinem Kopf? Das könnte amüsant werden. Sagen wir, ich betrachte Sie als Pfadfinder in meinem Gehirn. Machen Sie es sich dort gemütlich, soweit das geht. Ich hatte ein Problem heute morgen: Anfang. Also los, setzen wir uns an den Schreibtisch. Sie sichern die Spuren, deren Fährte ich verloren habe, und ich schreibe das nieder. Oder warten Sie. Den Anfang erzähle ich Ihnen besser.
Marianne Gruber, Die gläserne Kugel, Styria Verlag 1981, S. 21
Marianne Gruber wurde am 4. Juni 1944 in Wien geboren und verbrachte ihre Kindheit im Südburgenland. 50 Jahre später, 1994, wurde die Schriftstellerin und ORF-Club 2 Moderatorin Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und prägte damit maßgeblich den österreichischen Literaturbetrieb.
Zwei Jahre zuvor war Wolfgang Kraus, der langjährige Leiter der ÖGfL, mit der für Marianne Gruber überraschenden Frage an sie herangetreten, ob sie seine Nachfolge übernehmen würde. Die neue Position stellte die Schriftstellerin vor Herausforderungen. Die erfolgreichste Zeit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur lag bereits Jahre zurück, zudem standen manche Institutionen in einem Konkurrenzverhältnis. »Marianne Gruber war dabei – und das ist der denkbar größte Gegensatz zu Wolfgang Kraus – Mediatorin, vermittelndes Bindeglied zwischen Gegensätzen jeder Art« (Manfred Müller, In: In guter literarischer Gesellschaft, Edition Atelier 2024, S. 86), so der aktuelle ÖGfL-Leiter Manfred Müller. Auch die Schriftstellerin erinnert sich an diese schwierige Phase zu Beginn zurück:
Um die Atmosphäre etwas aufzulockern, erzählte ich zum Entsetzen aller beim
Marianne Gruber, In: In guter literarischer Gesellschaft, Edition Atelier 2024, S. 77
Mittagskaffee hin und wieder einen Witz, bis Helmuth A. Niederle [damaliger Stellvertreter von Marianne Gruber] vorsichtig darauf hinwies, daß das hier nicht üblich sei.
Marianne Gruber förderte u.a. die Kooperation der drei Literaturhäuser Wiens – neben der ÖGfL waren inzwischen auch das Literaturhaus und die Alte Schmiede ins Leben gerufen worden – und versuchte den bestehenden Konflikt zwischen dem P.E.N. – Club und der Grazer Autorenvereinigung zu überwinden. Marianne Gruber war ab 1980 zunächst selbst Mitglied der GAV gewesen, wurde jedoch 1988, nachdem sie Vorstandsmitglied des P.E.N. – Clubs geworden war, ausgeschlossen. Als Präsidentin der Literaturgesellschaft verschickte sie jetzt Einladungen an GAV- und P.E.N-Mitglieder.
Beim Pressefrühstück am 1. März 1994 kündigte sie den Richtungswechsel im Programm an. In insgesamt 17 Punkten verkündete Gruber u. a. die Einführung neuer Veranstaltungsreihen, wie die Kulturgespräche oder das Literaturstudio, und eine Neuauflage des Forums der Jugend. Junge Autor*innen, Kleinkünstler*innen und Jugendliche sollten genauso Teil des Veranstaltungsprogramms werden wie etwa kleine Verlage und Literaturkritiker*innen. Die Einladungspolitik änderte sich außerdem dahingehend, dass künftig mehr Kontakte zu Westeuropa geschaffen werden sollten, auch im Hinblick auf den erwünschten EU-Beitritt Österreichs. Des Weiteren setzte Marianne Gruber verstärkt auf eine internationale Öffnung des Programms, die weit über die Grenzen Europas hinausreichte, etwa war Abdulrazak Gurnah, der spätere Nobelpreisträger (2021), bereits 1999 und 2001 zu Gast.
Marianne Gruber pflegte und intensivierte auch die von Wolfgang Kraus aufgebauten institutionellen und personellen Kontakte (insbesondere etwa zu den Österreich-Bibliotheken), außerdem setzte sie sich für die Rezeption österreichischer Exil-Autor*innen ein. In diesem Zusammenhang entstand eine langjährige Freundschaft mit Egon Schwarz. Darüber hinaus erkannte sie die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit – zum Beispiel zwischen der Literatur und der Musik – und griff damit auf ihre eigene Biografie zurück. Von ihren Eltern wurde vor allem ihr musikalisches Talent gefördert, als Jugendliche studierte Marianne Gruber Klavier am Konservatorium der Stadt Wien. Nach der Matura folgten mehrere Semester Medizin und Psychologie bei Viktor E. Frankl. Im Medizinstudium traf die damalige Marianne Wurzinger auch ihren Mann Peter Gruber. Die beiden heirateten 1968 und bekamen zwei Kinder.
Neben ihrer Tätigkeit in der ÖGfL war Marianne Gruber u.a. auch Präsidentin des Sozialfonds der Literar-Mechana und Vize-Präsidentin der Manès Sperber-Gesellschaft.
Dass die Österreichische Franz Kafka-Gesellschaft heuer am 14. Juni 2024 nach 23-jähriger Pause erstmals wieder den Österreichischen Franz Kaga-Preis in zwei Kategorien an Josef Winkler und Radka Denemarková vergeben kann, ist Marianne Gruber zu verdanken. Sie brach die Gespräche mit allzu zögerlichen bzw. verhindernden Förderstellen kurz vor der Schließung des Studien- und Gedenkraums in Kierling 2011 ab, um sich an die Medien zu wenden. Der Raum und somit auch der gesamte Verein konnten daraufhin dank privater Spender*innen erhalten werden.
Gruber ist nicht nur Literaturvermittlerin, sondern auch Literaturproduzentin und deckt dabei ein weites Spektrum ab. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde sie als Schriftstellerin, die Prosa, Lyrik, Essays
und Beiträge für Hörfunk und Anthologien verfasste, bekannt. Auf ihren dystopischen Debütroman »Die gläserne Kugel« (Styria Verlag 1981) folgte der Erzählband »Protokolle der Angst« (Verlag NÖ Pressehaus 1983). »Zwischenstation« (Verlag d. Österr. Staatsdruckerei 1986), ein Roman mit einem undurchschaubaren bürokratischen Amt, bedrängt die Lesenden ebenso wie die Protagonistin und macht den Einfluss Kafkas in Grubers Schreiben deutlich, der später noch offensichtlicher werden wird.
In der Hauptstraße stand ein Zeitungsjunge. Marie bat den Taxifahrer anzuhalten und winkte den Jungen zu sich, aber es war ein anderer als sonst, und Marie fragte ihn, seit wann er hier Zeitungen verkaufte. Der Junge schaute sie verständnislos an. Seit immer schon, sagte er.
Marianne Gruber, Zwischenstation, Verlag d. Österr. Staatsdruckerei 1986, S. 79
Der in Briefen geäußerten Sorge, sie könne nach der Übernahme der Leitung der Literaturgesellschaft keine Zeit mehr für ihr literarisches Schaffen haben, wirkte Marianne Gruber mit »Die Spinne und andere dunkelschwarze Geschichten« (Edition LerchenStein 1995), »Ins Schloss« (Haymon 2004), »Magie der Worte« (gemeinsam mit Helmuth A. Niederle, Edition Königstein 2007) und »Erinnerungen eines Narren« (Haymon 2012) sowie weiteren Aufsätzen und Beiträgen entgegen. 2009 erschienen »Ausgewählte Gedichte« in der Reihe Podium Porträt. Von 1991-1994 war Gruber Vorsitzende des Literaturkreises ›Podium‹ gewesen und von 1992 bis 1995 Herausgeberin der Zeitschrift ›Podium‹.
Auch vor ihrer Präsidentschaft war Marianne Gruber ein gern gesehener Gast in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Bereits 1990 präsentierte sie als Schriftstellerin Gedichte im Rahmen des ›Tags der Lyrik‹, den sie später weiterhin jährlich organisieren sollte. Auch mit ihren Romanen »Der Tod des Regenpfeifers« (Fischer 1991) und »Windstille« (Verlag d. Österr. Staatsdruckerei 1991) war sie zu Gast. Als Leiterin der ÖGfL trat Gruber vor allem als Moderatorin, Lesende, Organisatorin, Drahtzieherin und damit als Stütze für die Literatur anderer auf, stellte jedoch auch ihre eigenen Texte weiterhin in der Literaturgesellschaft vor, so etwa am 24. Mai 2005 den Roman »Ins Schloss« (Haymon 2004), der sich Josef K.s Schicksal nach dem Ende von Kafkas Romanfragment annimmt.
So, sagte K. Das wäre wohl recht: Keine Fragen, keine Antworten, das Leben ist ein gleichmäßiger Fluss wie die Zeit. Es fließt und fließt, alles ist in Ordnung, bis es nicht mehr fließt. Ich würde ja gern auf alle Fragen verzichten und freudig tun, was man von mir verlangt, wenn ich mir wenigstens einer Sache sicher wäre.
Marianne Gruber, Ins Schloss, Haymon 2004, S. 93
Welcher, fragte Frieda.
Daß sich das alles wirklich und wahrhaftig ereignet hat, wovon andauernd gesprochen wird, daß es das wirklich und wahrhaftig gibt, was behauptet, da zu sein.
Auszügen aus ihrem jüngsten Roman »Erinnerungen eines Narren« (Haymon 2012) durfte man in der Literaturgesellschaft auch schon lauschen: 2012 las Gruber aus dem noch unveröffentlichten ›Clown-Roman› – von einem Clown, der in den Zirkus und vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs flieht.
Als ich es nicht mehr aushielt, stand ich leise auf und wanderte durch unser Quartier bis zur Manege. Dort setzte ich mich in die erste Zuschauerreihe und glotzte den Ort an, an dem ich hätte Triumphe feiern wollen. Staub, Sägespäne, abgewetzte Bänke, Reste von Papierblumen und eine schäbige Leere, die mir endgültig den Rest gab. Reichlich blöd so ein Verhalten.
Marianne Gruber, Erinnerungen eines Narren, Haymon 2012, S. 170
Marianne Grubers Werk wurde etwa ins Englische, Italienische, Russische, Tschechische oder Hindi übersetzt. Die Autorin wurde u.a. mit dem ›Jugendbuchpreis der Stadt Wien‹ (1992) und dem ›Würdigungspreis für Literatur‹ (1997) ausgezeichnet.
2014 übergab Marianne Gruber ihr Amt als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur an Manfred Müller. Anschließend war Marianne Gruber 2017 bis 2021 Leiterin des ›Österreichischen Schriftsteller/innenverbands‹.
Als Ehrenpräsidentin der ÖGfL ist sie weiterhin ab und an Gast in der Literaturgesellschaft, liest eigene Texte oder moderiert Abende, die ihr besonders am Herzen liegen.
Wir wünschen alles Gute!